Lebensgeschichte eines 400-jährigen Baumes

Autorin: Simone Naujack

Veröffentlicht im Heimatjahrbuch des Landkreises Mainz Bingen 2013, herausgegeben von der Vereinigung der Heimatfreunde am Mittelrhein

Johann Wolfgang von Goethe verfasst 1789 das Gedicht „Willkommen und Abschied“. „Liebe“ ist das Thema des Gedichtes, in der ersten Strophe erwähnt er die Eiche in ihrer Symbolik: „Schon Stand im Nebelkleid die Eiche, ein aufgetürmter Riese da….“.

Die „Kaltwassereiche“, am Waldalgesheimer RuheForst, war bei Erscheinen dieses Gedichtes bereits ca. 150 Jahre alt und sicherlich ein stattlicher Baum. Heute mit 400 Jahren kann man sie ohne weiteres als „aufgetürmten Riesen“ bezeichnen.

17. Jahrhundert 400 Jahre, das bedeutet im 17. Jahrhundert war dieser Baum ein Sämling. Der Wald wurde oft zur Waldweide für Schweine genutzt, unsere Eiche hatte also Glück, nicht im Bauch eines solchen Borstenviehes zu landen. In Europa wurden mehr als 20 Kriege geführt und die religiösen und dynastischen Spannungen erreichten im Dreißigjährigen Krieg ihren Höhepunkt. Betroffen war nahezu der gesamten Kontinent, verwüstet und entvölkert waren ganze Landstriche. Das Kloster Ruppertsberg blieb als Ruine zurück. Der „Westfälische Friede“ hatte zum einen die Glaubensspaltung und zum anderen eine gewaltige Verschiebung der mittelalterlichen Feudalordnung zur Folge. Der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. baut seine Schlösser und zerstörte die Pfalz im Erbfolgekrieg. Die Renaissance wurde durch die Philosophie der Aufklärung fortgesetzt. Forschung, Erfindungen und Entdeckungen durch Galilei, Newton, Descartes und Leibniz veränderten das Weltbild. Die Erde war nun keine Scheibe mehr, die Erdanziehungskraft und andere „Kräfte der Natur“ waren entdeckt.

18. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert war unsere Eiche bereits rund 20 Meter hoch, hatte einen Kronendurchmesser von ungefähr 15 Metern, einen Stammdurchmesser von ca. 25 cm.

Die Eiche wurde in diesem Jahrhundert,  unter anderem von Friedrich Gottlieb  Klopstock, zum deutschen Nationalbaum erhoben: „O Vaterland! O Vaterland! … Du gleichst der dicksten schattigsten Eiche. Im innersten Hain, der höchsten, ältesten, heiligsten Eiche“ (Verse aus dem  Drama „Hermanns Schlacht“). Das 18. Jahrhundert war geprägt von der Aufklärung. Es markiert den Beginn der Moderne in Europa. Noch herrschte der Adel, am Ende des Jahrhunderts bekam das Bürgertum immer stärkeren politischen Einfluss.

Wegen ihrer großen Symbolkraft und ihrem starkem Wertebezug ist die Eiche, neben Birke und Linde, eine beliebte Figur in der Heraldik. Dabei werden für Darstellungen der Eiche im Wappen alle Elemente verwendet:  der Baum selbst, die  Blüten, Früchte (Eicheln), Stamm und Zweige.

Unsere Eiche ist inzwischen 100 Jahre alt geworden. Sie mag von dem Trubel um den Eichenbaum wenig mitbekommen haben, vielleicht verdankt sie ihm aber, dass Sie diese Zeit  überstanden hat. Auch viele Eichen im angrenzenden Wald  haben ein Alter von ca. 100 Jahren. Durch das RuheForst-Konzept werden sie auf weitere 99 Jahre vor Abholzung geschützt.

So wie sie sah unsere „Kaltwassereiche“ also vor etwa 300 Jahren aus. Jung, dynamisch, kraftvoll. Den Kampf um Licht und Wasser hatte sie gegen viele Mitbewerber gewonnen. Ihre Stammform wurde geprägt vom ständigen Kampf ums überleben. Im Winter, wenn die Baumstämme nicht von Laub verdeckt sind, erahnt man den ständigen Daseinskampf der im Wald stattfindet. Im Winter sieht man die Spuren eines unbarmherzigen Wettkampfes der Bäume um Licht und Wasser. Ganz individuelle Stammformen bilden sich aus. Jeder Baum ist einzigartig.

19. Jahrhundert Zurück zu „unserem Baum“: die „Kaltwassereiche war 200 Jahre alt, das 19. Jahrhundert begann. Es war die Zeit, in der sich die Industrialisierung und die kapitalistische Wirtschaftsweise in Europa durchsetzten. Mit dem Imperialismus und dem Kolonismus erreichte die Dominanz Europas in der Welt ihren Höhepunkt. Die Industrialisierung veränderte sich die Lebensweise der Menschen dramatisch. Der soziale Wandel zerstörte hergebrachte Verhaltens- und Denkweisen. Die Verkehrsrevolution und die Suche nach Arbeit erhöhten die Mobilität. Die Städte wuchsen. Das 19. Jahrhundert war in vieler Hinsicht das Jahrhundert des Bürgertums. Arbeiterbewegung und Sozialismus wurden zu zentralen Begriffen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dagegen verloren der Adel und die Landbevölkerung tendenziell an Bedeutung. Mit der Reichsgründung 1871 und dem Gefühl nationaler Einheit zog das Eichenlaub erneut  in die deutsche Symbolsprache ein. Auf deutschen Ehrenmalen, Kränzen und  Hoheitszeichen dieser Zeit sieht man es häufig. Die Eiche wurde als Heilpflanze entdeckt. So wurde aus Eichenrinde eine Mundspülung bei Entzündungen der Schleimhaut in Mund und Rachen, ein  Badezusatz bei Fußschweiß und Frostbeulen und eine Medizin zur innerlich Anwendung bei Magenbeschwerden und Durchfall gewonnen.

20. Jahrhundert Im 20. Jahrhundert entwickelte Edward Bach  in England seine bis heute bekannte Bach-Blüten-Therapie. Die Eichenblüte (Oak) ist die Blüte Nr. 22. Zu ihrem Blütenbild (Anwendungsgebiet) gehören Mutlosigkeit und Verzweiflung. Bach sagt: “ Der Mensch der Oak braucht fühlt sich als niedergeschlagener und erschöpfter Kämpfer, der trotzdem tapfer weitermacht und nie aufgibt.“ Übrigens blühen Eichen mit 60 Jahren zum ersten Mal.

Eichenlaub fand sich auf der Goldmark im Deutschen Reich, auf der Reichsmark in der Nazizeit und danach sowohl auf der D-Mark als auch auf der Mark der DDR. (Im Übrigen ziert es heute bei uns auch den Euro). Das 20. Jahrhundert zählt zur Epoche der Neuzeit und war besonders durch die beiden Weltkriege und den daraus erwachsenden Kalten Krieg geprägt.Nach dem zweiten Weltkrieg herrschte Hunger, Menschen waren auf der Suche nach Essbaren und …  nach Brennholz. Aufgrund seiner großen Härte und Wetterbeständigkeit wurde das Holz der Eiche für Eisenbahnschwellen, Schiffe, Brücken und Brückenpfeiler verwendet. Wiederum hatte „unsere Eiche“ Glück, nicht aus Not in einem wärmenden Feuer zu enden oder im Wiederaufbau Verwendung zu finden. 1989 wird die Eiche zum  „Baum des Jahres“ ernannt.

21. Jahrhundert Wir schreiben jetzt das 21. Jahrhundert. Unsere Eiche hat heute eine Höhe von 25 Metern, einen Stammumfang von rund 4 Metern und ist teilweise hohl. Ihr Kronenumfang wird auf 45 Meter geschätzt. Sie scheint in die Jahre gekommen, unsere Eiche, „ein aufgetürmter Riese“. Der sanfte Riese gibt heute Waldkauz, Fledermaus, Eichhörnchen und Käfern Lebensraum und Nahrung. Er reinigt unsere Luft, speichert Kohlendioxid, produziert Sauerstoff. 25 kg Traubenzucker produziert ein 100-jähriger  Baum durchschnittlich am Tag, wer kann und mag darf hochrechnen. Aber die „Kaltwassereiche“ an diesem besonderen Ort, am Eingang des Bestattungswaldes „RuheForst Rheinhessen-Nahe“, ist weit mehr als ein Biotop. Sie ist Symbol für die Ewigkeit. Ein Eichenleben überdauert 30 Generationen, eine Eiche kann demzufolge 1000 Jahre alt werden. Die Eiche behauptet sich und setzt sich durch, heftige Stürme übersteht sie. Der Volksmund sagt, dass ein starker Mensch „wie eine Eiche steht“. Es heißt, dass die Wurzeln einer Eiche so tief in den Boden reichen, wie ihre Krone in den Himmel. Kaum ein Besucher, der den Bestattungswald betritt, ohne den mächtigen Stamm am Eingang  anzufassen oder den Blick kurz in die mächtige Krone schweifen zu lassen. Die Bäume im RuheForst sind Lebensraum, Kohlendioxidspeicher, Schattenspender und…. Bezugspunkte, Bäume zum anlehnen.

 

Quellen-Hinweise:

Arens, Peter/ Brauburger, Stefan / Knopp, Guido; Die Deutschen: Vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert; C.Bertelsmann- Verlag, 2008

Emmerich, Alexander/ Jarkrift, Kay Peter/ Kockerois, Bernd; Müller Wolfdietrich; Duden Deutsche Geschichte: Allgemeinbildung kompakt, Bibliographisches Institut, 2009

Goethe, Johann Wolfgang von; Willkommen und Abschied, Der Kinderbuchverlag Berlin, 1989

Kleist, Heinrich von; Die Hermannsschlacht, Kindel-Edition, 2009

Müller, Herbert; Der Binger Wald, Forstamt Bingen, 1986

Palow,M.; Das große Buch der Heilpflanzen, Bechtermünz-Verlag, 2001

Scheffer, Mechthild; Die Original Bach-Blütentherapie , Südwestverlag, 2005

Schlicher, H./ Kammerer,S.; Leitfaden Phytotherapie, Urban& Fischer- Verlag, 2000

 

Außerdem wurden folgende Internetseiten verwendet:

http://www.wikipedia.de

http://www.wald-rlp.de

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