Wald schützt Erinnerung- Erinnerung schützt Wald

2. März 2016 – 

Nach fünf Jahren ist der RuheForst in Waldalgesheim ein fester Bestandteil der Bestattungskultur.

Allgemeine Zeitung Bingen/Ingelheim: Heimat am Mittelrhein 27.02.2016


Im September 2015 wurde das fünfjährige Bestehen des Waldalgesheimer Bestattungswaldes feierlich begangen und gleichzeitig die Fläche verdoppelt. Sieben Hektar Wald waren zu klein geworden. 5 Jahre RuheForst, das bedeutet 6000 verkaufte Plätze und rund 1000 Beisetzungen, aber es bedeutet vor allem: Kontakt zu mehreren tausend Menschen mit ihren Lebensgeschichten und ihren Schicksalen.

Am Anfang gab es Tränen
Mit Unterstützung des Männergesangvereins wurde der RuheForst Rheinhessen-Nahe in Waldalgesheim von den Pfarrern, den Vertretern der Politik und der RuheForst GmbH feierlich eröffnet. Zahlreiche Gäste waren gekommen. Es gab die ersten Gruppenführungen und nette Gespräche mit Schnittchen und Sekt bei sonnigem Herbstwetter.
Wenige Tage später: Es regnet. Ich treffe ein junges Paar, das vor wenigen Tagen sein Baby verloren hat. Baum und Platz müssen ausgewählt werden für das Regenbogenkind. Mangels vorgefertigter Worthülsen, versuche ich die passenden Worte zu finden, den weinenden Eltern eine kleine Stütze zu sein. Als alles besprochen ist und die beiden gegangen sind, setze ich mich auf eine Bank. Ich weine.

Zur Erklärung: Das RegenbogenBiotop ist ein Baum, der für die Beisetzung sogenannter stumm geborener Kinder gedacht ist. Hier wird den Eltern kostenlos ein Platz angeboten. Namenstafeln können am Baum angebracht werden, auch dann, wenn der kleine Mensch streng genommen keinen Namen hatte. Auch eine weitere Symbolik hilft den Eltern: die als RegenbogenBiotop ausgewählten jungen Bäume haben viel Platz und Licht und können so zu stattlichen Bäumen heranwachsen.

Menschen, Geschichten und Tragödien, die ganze Bandbreite des Lebens
Zahlreiche Bäume wurden seit der Eröffnung mit trauernden Angehörigen, mit totkranken Menschen und mit sogenannten Vorsorglern ausgewählt. Die Termine mit letzteren sind meist die leichtesten. Unbedarft werden Bäume nach Schönheit, Lage und Wuchsform ausgesucht. Bei der Baumauswahl von so manchem Freundeskreis und so mancher Familie wird hin und wieder herzlich gelacht. Die anderen aber bringen ihre Geschichten mit: Da ist die junge Ehefrau, die ihren Mann plötzlich und unerwartete viel zu früh verloren hat und der alte Mann mit dem Rollator, der 50 Jahre verheiratet war und nun zum ersten Mal alleine ist. Da ist der Sohn, für den der Tod seiner 90-jährigen Mutter ebenso plötzlich kommt, wie für das Elternpaar, dass das eigene Kind zu Grabe tragen muss. Da ist der Arbeitskollege für den man im Bekanntenkreis sammelt, damit er einen Platz an einer dicken Eiche, so stark und gerade wie er selbst, bekommt und das Geschwisterpaar, das den teuersten Platz auswählt und am Ende nicht bezahlen kann.
So kann die Auswahl eines Baumes schon mal zwei Stunden dauern, nicht weil die Entscheidung schwer fällt, sondern weil es so viel zu erzählen gibt. So vieles muss jetzt gesagt werden, bis die Tränen trocknen und der Wald seine Arbeit tut. Der Wald tröstet mit seiner natürlichen Lebendigkeit: Die Vögel singen, Eichhörnchen klettern in den Ästen herum, der Wind streicht durch die Haare oder schlägt hart ins Gesicht. Regentropfen vermischen sich mit Tränen, ein Igel schlurft schnaufend über den Weg. Die Menschen atmen die würzige Luft. Für diesen kurzen Moment wird nichts von ihnen verlangt: kein Telefon klingelt, keine Trauerkarte muss beantwortet werden.

Zur Erklärung: Die Baumauswahl im RuheForst ist eine sehr persönliche Sache. Bäume sind als Biotope eingemessen und in eine Karte eingezeichnet. Diese Biotope sind aufgeteilt in sogenannte Gemeinschafts- und Familien- oder FreundschaftsBiotope. Ein Biotop hat in der Regel 12 Plätze. Am GemeinschaftsBiotop wird das Beisetzungsrecht für einzelne Plätze, ggfs. auch zwei nebeneinander, am Familien- oder FreundschafstBiotop für das komplette Biotop erworben. So kann theoretisch auch eine Person einen ganzen Baum „für sich alleine haben“. Baumart und Lage können frei gewählt werden. Der Waldspaziergang zur Baumauswahl wird durch Förster Bernhard Naujack oder sein Team begleitet.

In kleinen Schritten zurück ins Leben
Die Auswahl des Grabplatzes für einen Verstorbenen, ob geliebt oder ungeliebt, ist ein erster Schritt in Richtung Abschluss. Die Verabschiedung selbst ist dann der nächste: Oft bringen die Angehörigen sich selbst mit ihrer ganzen Persönlichkeit ein, oft verstecken sie sich aber auch an diesem Tag hinter einer Maske. Oft wird die christliche Liturgie zelebriert, aber manchmal ist die Verabschiedung auch eine ganz private Sache. Es werden Blütenblätter in Grabstätten gestreut, gesungen, geschwiegen oder musiziert. Stöckelabsätze versinken im weichen Rindenmulch, zarte Kopftücher wehen im Wind oder bunte Wanderkleidung ziert, auf Wunsch des Verstorbenen, die Trauergemeinde. Einzelne Pfarrer weigern sich, die Beisetzung im RuheForst zu begleiten, andere binden Gottes Schöpfung einfühlsam in ihre Ansprache mit ein. Wussten Sie schon: Es gibt Menschen, die ihre eigenen Trauerrede schreiben, oder solche, die sich wünschen, die Freunde mögen doch zum Abschied ein Glas Sekt an Ort und Stelle trinken, so wie bei den geliebten, geselligen Treffen in der Vergangenheit.

Zur Erklärung: Die Verabschiedung im RuheForst ist frei von Zwängen. Alle Beisetzungen werden von einem Mitarbeiter des RuheForstes begleitet. Ob die Verabschiedung im Familienkreis oder offen gestaltet, ob ein Pfarrer oder Trauerredner gewünscht wird, oder die Verabschiedung still oder „nur“ mit Musikbegleitung stattfinden soll, wird im Einzelfall besprochen. In der Regel ist auch der Bestatter mit dabei und organisiert alles im Sinne der Angehörigen.

Den letzten Schritt in Richtung Abschluss müssen die Angehörigen dann alleine gehen. Manch einer kommt täglich, sitzt mit einem Buch auf einer Bank in der Nähe des Baumes und liest laut vor. Familien bringen die Geschwisterkinder mit und breiten Decken auf dem Waldboden aus. Eine Gruppe verwitweter Damen kommt einmal in der Woche mit dem RuheForst-Bus.

Zur Erklärung: Immer dienstags fährt der Kleinbus der SV Alemannia vom Sportplatz in Waldalgesheim zum RuheForst und zurück. Die einfache Fahrt kostet 1€. Am Ende des Jahres wird der so zusammengekommene Betrag von RuheForst verdoppelt. Das Geld erhält die Fußballjugend des SV Alemannia.

So wird der Baum für die Angehörigen zum Bezugspunkt. Er wird fotografiert, umarmt und gemalt, manche auch getreten oder beschimpft. Die Bäume halten das aus! Viele von ihnen waren schon da, bevor wir alle geboren wurden. Die meisten von ihnen werden noch da sein, wenn es uns lange nicht mehr gibt.

Zur Erklärung: Das Nutzungsrecht im RuheForst wird auf 99 Jahre ab Eröffnung eingetragen. Vertragspartner ist die Gemeinde Waldalgesheim als Waldeigentümerin. Der Baum ist in dieser Zeit vor Abholzung geschützt. Die biologisch abbaubaren Urnen werden nach und nach Teil des Waldbodens, Sie verlassen ihren Platz nie mehr.

Es ist alles so lebendig hier
Wie lange dieser Schritt des Abschiednehmens dauert, ist unterschiedlich. Der Baumbesuch im RuheForst ist immer mit einem direkten Erleben des Waldes und der Jahreszeiten verbunden. Die Phase des Loslassens dauert in jedem Fall länger, als die Trauerzeremonie selbst, deshalb ist es schlussendlich auch nicht wichtig, ob am Tag der Beisetzung die Sonne scheint oder es regnet. Bei einem der zukünftigen Baumbesuche wird sicherlich die Sonne scheinen!

Zur Erklärung: Grabpflege im RuheForst ist nicht nötig, aber auch nicht möglich. Ein Wald ist ein empfindliches Netzwerk, indem nicht standortgerechte, samentragende oder wuchernde Pflanzen schnell zum Problem werden könnten. Deshalb wird streng darauf geachtet, dass kein Grabschmuck abgelegt wird. Bezugspunkt für die Angehörigen ist der Baum und nicht die Stelle im Boden. Der Baum als wachsender Grabstein kann eine Namenstafel tragen.

Der richtige Weg
Menschen, die für sich selbst oder ihre Angehörigen den RuheForst als letzten Weg wählen, sind nicht zwangsläufig alt oder jung, reich oder arm, Handwerker oder Akademiker, Christen oder Atheisten. Sondern sie sind vor allem Menschen. Persönlichkeiten mit Stärken und Schwächen und den unterschiedlichsten Strategien damit umzugehen. Sie gehen den für sie richtigen Weg. Und so erinnert der Besucher sich an die Menschen, die im Schoße des Waldes ruhen:

Wir vermissen dich

Wenn wir hinauf zum Himmel blicken, denken wir an dich.

Wenn Vögel in den Ästen singen, erinnern wir uns an dich.

Wenn Wind in den Blättern rauscht, hören wir dich.

Wenn Sonnenstrahlen durch die Wipfel fallen, spüren wir dich.

Wenn Regen auf das Blätterdach klopf, fließen mit ihm unsere Tränen davon.

                                                                                                                      Simone Naujack